Oranienbaum-Wörlitz Frauenmangel: So lebt es sich zwischen all den Männern
Presse Team, 25.11.2024
Oranienbaum-Wörlitz Frauenmangel: So lebt es sich zwischen all den Männern
25. November 2024, 10:47 Uhr
100 Frauen im Alter von 18 bis 29 Jahren und 171 Männer: Experten nennen ein solches Verhältnis einen Männerüberschuss. In Sachsen-Anhalt ist der bei jungen Menschen bundesweit am größten. Besonders betroffen ist Oranienbaum-Wörlitz. Wie macht sich das im Alltag bemerkbar? Und was sagen die Frauen?
von Sarah-Maria Köpf, MDR SACHSEN-ANHALT
Oranienbaum-Wörlitz ist eine der Regionen in Sachsen-Anhalt mit besonders hohem Männerüberschuss. Statistisch gesehen kommen hier also sehr viel mehr Männer auf 100 Frauen.
Frauen verlassen nach dem Schulabschluss die ländlichen Regionen, weil sie einen höheren Bildungsgrad haben.
Einige Frauen kehren aber auch wieder zurück.
VideoMännerüberschuss: Sachsen-Anhalt kämpft um weibliche Fachkräfte
In der abendlichen Dunkelheit rund um den Wörlitzer Park ist der hell erleuchtete Sportplatz schon von weitem zu erkennen. Einmal die Woche trifft sich hier die Frauenfußballmannschaft des SV Grün-Weiß Wörlitz zum Training: vierzehn Frauen zwischen 15 und 47 Jahren. "Die Mannschaft ist Familie", sagt Andrea Stolzenburg.
Die 39-Jährige stammt ursprünglich aus Oranienbaum, mit Anfang 20 zieht sie weg. "Damals war das so: Schule fertig, Ausbildung irgendwo suchen, Hauptsache weg. Für die Jungen gibt es hier einfach nichts, das ist das Traurige. Man hat sich als Jugendlicher an einer Tankstelle getroffen, hat da seine Abende verbracht." Fast alle aus ihrem Jahrgang seien damals weggezogen.
Andrea Stolzenburg ist 2019 zurück nach Wörlitz gezogen. Nach der Schule wollte sie erst einmal weg.Bildrechte: MDR/Sarah-Maria Köpf
Andrea Stolzenburg geht in die Nähe von Dresden, später nach Halle. Der Grund: Die gelernte Kauffrau für Bürokommunikation will in die Altenpflege wechseln. "Die haben ungelernte Kräfte einfach nicht genommen", erinnert sie sich. In Sachsen habe sie dagegen sehr schnell etwas gefunden – die Entscheidung, wegzuziehen, fiel daher nicht schwer. "Ich arbeite gern mit Menschen. Ich mache das vom Herzen her", sagt sie.
Männerüberschuss in Sachsen-Anhalt bundesweit am größten
So wie Andrea Stolzenburg geht es vielen jungen Leuten in der Region. Statistisch gesehen, sind es jedoch vor allem Frauen, die wegziehen. Die Stadt Oranienbaum-Wörlitz ist einer der Orte in Sachsen-Anhalt, in der der sogenannte Männerüberschuss besonders stark ausgeprägt ist.
Auf 100 Frauen im Alter von 18 bis 29 Jahren kommen hier rund 171 Männer, wie Zahlen des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2023 zeigen. Damit liegt die Stadt über dem Landesdurchschnitt von 100 Frauen zu 117 Männern. Bundesweit ist der Männerüberschuss in Sachsen-Anhalt in dieser Altersgruppe am größten, auf Platz zwei und drei liegen Thüringen und Brandenburg.
Die Zahlen zeigen auch: Bei der Geburt ist das Verhältnis von Jungen und Mädchen noch relativ ausgeglichen. Erst nach dem Schulabschluss verändert sich das.
Zusammenhang zwischen Frauenmangel und Bildungsniveau
Frauen wird ein höherer Bildungs- und Berufsorientierungswunsch nachgesagt", erklärt dazu Klaus Friedrich, emeritierter Professor für Sozialgeografie der Uni Halle. Frauen haben demnach bessere Abiturabschlüsse und wollen dann einen entsprechenden Beruf ergreifen.
Nach der Wende habe sich deshalb eine Abwanderungskultur herausgebildet, so Friedrich. Während Frauen vor allem in den Dienstleistungssektor wollten und vermehrt nach Westdeutschland gingen, zeigten sich Männer durchaus mit den Arbeitsbedingungen vor Ort – im ländlichen Raum, im Kfz-Gewerbe oder im Handel – zufrieden.
Mittlerweile gleiche sich der Ost-West-Gegensatz an. "Wir haben aber nach wie vor einen Stadt-Land-Gegensatz. Die ländlichen Regionen haben immer noch sowohl im Westen als auch im Osten höhere Männer- als Frauenanteile", sagt Friedrich. Das hat weitreichende Konsequenzen – demographisch, weil die Geburtenrate sinkt als auch ökonomisch, weil die Erwerbstätigen im Land fehlen.
Zurückgekehrt wegen der Familie
Andrea Stolzenburg hat mittlerweile ihren Abschluss als Fachkraft in der Altenpflege nachgeholt. 2019 entschließt sie sich, zurück in die Region zu ziehen – der Familie wegen. "Die Wurzeln sind hier. Das ist Heimat und Heimat ist alles", sagt sie.
Doch der Weggang aus Halle hat auch noch einen anderen Grund. "Wir haben in der Parallelstraße vom Anschlag gewohnt. Man hat sich nur noch umgeguckt, man wusste nicht mehr, wer hinter einem steht, hat sich nicht auf die Straße getraut", erzählt sie. In Wörlitz fühle sie sich dagegen sicher – auch abends im Dunkeln. "Man weiß, hier passiert nichts. Das ist halt Dorf und Dorf ist schön."
Jobtechnisch bleibt es aber weiterhin schwierig, denn in Wörlitz gibt es kein Pflegeheim. Bis 2022 pendelt sie noch nach Halle, mittlerweile arbeitet sie in Dessau.
Fachkräfte in die Region holen
In vielen Regionen in Sachsen-Anhalt hofft man auf Rückkehrer wie Andrea Stolzenburg. Spezielle Programme sollen helfen, weibliche Fachkräfte wieder aufs Land zu ziehen. Trotzdem sei das nicht einfach, meint Jana Worreschk von der Landesinitiative "Fachkraft im Fokus". "Das liegt daran, dass wir vor allem klein- und mittelständisch geprägt sind. Viel Handwerk, viel Landwirtschaft, metallverarbeitende Industrie. Das sind natürlich nicht die klassischen Frauenberufe."
Arbeitgeber müssten deshalb anders überzeugen, etwa mit einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder besseren Aufstiegschancen speziell auch für Frauen.
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Nachwuchsmangel auch bei der Frauenmannschaft
Paula Gollek aus Oranienbaum hat ihre berufliche Zukunft noch vor sich. Die 16-Jährige ist eine der jüngsten Spielerinnen in der Mannschaft, besucht die 10. Klasse. Nach ihrem Abschluss im kommenden Jahr möchte sie Physiotherapeutin werden – dafür zieht es sie ebenfalls nach Dessau. Die Zusage für einen Ausbildungsplatz hat sie bereits bekommen. Auch sie sagt: "In Oranienbaum ist einfach nicht viel los. Da wohnen gefühlt nur Rentner."
Umso mehr schätzt sie die gemeinsame Zeit mit den anderen Frauen beim Fußball. Beim Training könne sie abschalten und den Schulstress vergessen. Und eine große Auswahl an Freizeitaktivitäten gebe es in Oranienbaum-Wörlitz ohnehin nicht.
Trotzdem sei es nicht leicht, neue Frauen für die Mannschaft zu gewinnen. "Wir haben Probleme, Nachwuchs ranzubekommen", sagt Mannschaftsleiter Lars Ries. Weil der Standort nicht so attraktiv und mit dem ÖPNV nur schwer zu erreichen ist, hat der Verein sogar schon einen Abholservice angeboten. Damit die 14 Frauen beim Training trotzdem das Spielen gegen eine gegnerische Mannschaft üben können, unterstützt die Männermannschaft. Ein Bild, das exemplarisch für den Frauenmangel der Region ist.
In Oranienbaum ist einfach nicht viel los. Da wohnen gefühlt nur Rentner.
Paula Gollek, 16 Jahre, Fußballspielerin in Wörlitz
Frauenmangel begünstigt rechte Parteien
Dabei sind vor allem die gesellschaftlichen Auswirkungen von Frauenmangel nicht zu unterschätzen, zeigt eine schon 2007 veröffentlichte Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Die Aussichten für die verbleibenden jungen Männer sowohl am Arbeitsmarkt als auch bei der Partnerfindung gestalten sich demnach "ungünstig", heißt es darin. In den betroffenen Gebieten sei der Zuspruch zu rechten Parteien besonders hoch.
Auch das Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Halle schreibt in einer Studie zu den sozialökonomischen Effekten des demographischen Wandels in ländlichen Räumen in Sachsen-Anhalt: "Bei über 20 Prozent Männerüberschuss verändern sich Werte, Normen und Leitbilder; greift eine ungesunde Lebensführung um sich, kommt es zur Radikalisierung im Sozialverhalten und zur politischen Polarisierung bis hin zur Entwicklung von Gruppen mit extremistischen Orientierungen."
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Männerüberschuss im Alltag kaum bemerkbar
Die Frauen der Fußballmannschaft in Wörlitz sind sich jedoch einig: Von einem Männerüberschuss in ihrer Region bemerken sie – trotz der eindeutigen Statistik – im Alltag nichts. Einzig Bianca Gensicke beobachtet eine Tendenz in ihrem Beruf: "Ich arbeite im Betonwerk. Da sind in der Produktion nur Männer. Aber im Büro ist es fast ausgeglichen", erzählt die Bauzeichnerin.
Die 47-Jährige ist nach dem Schulabschluss in der Region geblieben. Ursprünglich aus Vockerode, zieht sie mit Anfang 20 nach Wörlitz in eine WG. Über die Jahre bleibt sie der Stadt treu. "Ich hatte alles hier. Ich habe die Familie. Ich habe hier einen Job gefunden. Ich bin seit 25 Jahren in meiner Firma und deswegen bin ich hiergeblieben."
Sie ist es auch, die 2016 die Frauenfußballmannschaft aus einer "Bierlaune" heraus gründet, wie sie sagt. Als Mutter von zwei Kindern, weiß sie aber auch, dass Freizeitangebote in der Region rar gesät sind. Neben dem Verein, in dem sie selbst die Kindermannschaft betreut, gebe es kaum etwas. "Es hat sich in den Jahren ganz wenig getan. Es ist nach wie vor schwierig. Wenn man den Kindern was bieten will, muss man eben weit fahren", sagt sie.
Ein Spirale, mit der ländliche Regionen im ganzen Land zu kämpfen haben. Trotzdem sind die Frauen zuversichtlich. Andrea Stolzenburg bemerkt: "Es gibt Rückkehrer. Nach und nach kommen sie dann doch alle wieder zurück."
Frauenmangel und Männerüberschuss: Hier kommen 100 Frauen auf 171 Männer | MDR.DE
Quelle:mdr